Vivarium Seite 16

Ein langer Streit beweist, dass beide Seiten Unrecht haben.

Voltaire

***

Die große Wanderung.

Rudolf und Dorthe sind in Amsterdam angekommen und sahen die Bescherung:
Die Stadt war in weiten Teilen gebrandschatzt, der Laden war zwar noch funktional, aber geplündert und die Fenster waren zerschlagen.
Der Vater war inzwischen gestorben, die Geschwister haben sich zerstreut, nur zwei Brüder waren noch in der Wohnung.
Die jungen Burschen hielten sich vor dem Militärdienst versteckt und wollten die nächste Möglichkeit nutzen,
um mit dem Schiff nach Amerika zu fahren.
Die Waren sind geplündert, aber die Einrichtung war noch gut.
Der Wiederaufbau hatte längst begonnen, dem die Beiden sich anschlossen.

Die Freihöfer vertrugen sich prächtig, der Westerwald war wieder zur Ruhe gekommen,
der Gastbetrieb lief weiter wie bisher, die Postkutschen haben alle gehalten-
auch ohne Hinweis oder Legitimation:
Hier warteten immer wieder Reisende auf Mitnahme- die einen kamen aus dem Osten und wollten in den Norden,
andere kamen aus dem Süden und wollten nach Westen- die Kreuzung dieser wichtigen Strassen war nicht weit.
Die Bauernwirtschaft lief ruhig und zufriedenstellend.
Erneut kam Nachwuchs bei Karl und Dora - ein Helmut kam zur Welt.

Jeremia hat die Vorgänge längst gewahr und hat die Gelegenheit
zu einer Reise nach Holland genutzt, nicht nur um seinen Schmuck wieder zu sehen.
Die Kontakte zwischen ihm und Rudolf und Dorthe sind geblieben,
den Schmuck und einige Dinge aus dem Laden haben die beiden retten können.

Es dauerte nicht lange, dann wurde es auch im Dorf wieder lebendig-
der Pfarrer witterte, daß er ein wenig mehr Einfluss auf den Freihof hat,
weil seine "Schafe" regelmäßig zur Kirche gingen, nachdem sie sich kirchlich trauen ließen.
Der Pfip mit Margarete und der Grode mit Elisabeth.

Karl und Dora haben sich dieser Sache nicht angeschlossen,
deren Kinder haben nie eine Taufe gesehen.

Nun kam dieser Pfarrer ab und an zu Besuch in den Freihof
und wollte seine Bekehrungen auch im Hinterhaus halten,
aber weder mit Sanftheit noch mit Drohungen kam er dort weiter:
Das Paar hat ihm immer wieder die Tür gewiesen.
Dora meinte: Dieser seifige Vogel passt nicht zu unserem Paradies.
Der Pfarrer wollte überall schnüffeln, möglichst in allen Räumen.
Aber auch die Leute des Vorderhauses haben ihn auf Abstand gehalten
und nie aus den Augen gelassen- selbst auf dem Weg zum Abort ging jemand mit:
Er begann sonst sofort seine Nase mal hier mal da in die Liegenschaften zu stecken.
Dabei ist er im neuen Haus im Erdgeschoss in die Pferdeställe gelangt-
die ihn durch lautes Wiehern verraten haben.
Selbst den Pferden kam diese schwarze Gestalt verdächtig vor!

Und so kam bald ein Offizieller vorbei,
d er sich nach diesem und jenem Detail des neuen Gebäudes erkundigte
und nach den Genehmigungen und ob überhaupt der Zehnt richtig abgeführt worden sei..

Diese nötigen und wichtigen Genehmigungen hat der alte Schultheiß
noch zeitig aus seinem Kontor zum Freihof schicken lassen,
soviel war er seinen Freunden schuldig, er wollte in guter Erinnerung bleiben.
Herrmann, Erwins Freund, hatte die letzte Köhlertochter geheiratet, die Moni -
die hat ab und an in der Kirche ausgeholfen.
Nach der Übernahme des Sägewerks durch Herrmann, was dem letzten Willen des Verstorbenen entsprach,
hatte er alle Hände voll zu tun.

Grode und Elisabeth, die das neue Haus und die Schmiede und den Pferdewechsel betrieben,
hielten mit Pfip und Margarete, die das Vorderhaus mit Gastbetrieb hatten,
einen gesonderten Familienrat, der sich mit dem Thema der Vorwürfe des Pfarrers
bezüglich Karl und Dora befasste und den nicht getaufen Heidenkindern, wie dieser das nannte.
Pfip meinte: Dieser seifige Kerl schnüffelt bei jeder Gelegenheit,
jetzt werde ich diesem mal nachschnüffeln lassen-
die Moni hilft doch in der Kirchengemeinde mit, vielleicht weiß die was!
Der Pfarrer war wie eine Krake, er hatte überall seine Finger mit im Spiel,
seine Frau hatte nichts mehr zu melden, sie mußte sich auf Kinder und Haushalt beschränken.

Gesagt, getan- die Moni war vorsichtig und meinte nur:
Frage mal in Rennerod nach diesem Pfarrer, da werden dir die Augen geöffnet.
Nächste Woche habe ich wieder dort zu tun, danke erst einmal, meinte Pfip trocken.

Die Woche verstrich schnell, die kleine Reise stand an- es waren einige Besorgungen zu machen,
die mit der nicht mehr existenten Poststation und der Konzession zu tun hatten.

Im neuen Amt war jeder schweigsam, schließlich ging es um den Schulzen, nicht um irgend eine Person aus dem Dorf..
Aber im Laden um die Ecke war die Sache schon leichter zu erfahren:
Der Pfarrer ging schon einige Zeit in eine Wirtschaft, die bekannt für käufliche Liebe ist.
Er sei bisher immer am Sonntag, nach dem Gottesdienst aus der Dorfkirche direkt nach da gefahren.

Gut, dachte sich Pfip, der das seiner Margarete am Abend sagte, diesen schwarzen Vogel kriege ich!
Am Sonntag hockten zwei Leute aus Rennerod -die er vom Handel kannte- gegen eine "Gebühr"
für ihn beim Bier in der Gaststube dieses fragwürdigen "Etablissements".

Eine leichtgeschürzte "Dame" wartete schon auf der Treppe auf ihren "Freier",
und verdächtig schnell ging eine - diesmal nicht in schwarz gekleidete - Gestalt
flink nach oben in die dafür eingerichteten Zimmer.
Ohne Frage, das war der Pfarrer - der nach relativ kurzer Zeit
wieder die Treppe hinab stolperte, die Kleidung noch im Gehen ordnend..
als oben die Tür aufging: "Also bis Sonntag wieder !"
Er drehte sich nochmal herum: "wie immer!"
Der Pfarrer dachte sich nicht dabei, als er die beiden Beobachter beim Bier sitzen sah-
dort waren öfter Männer, die offenbar warteten, bis sie an der Reihe waren.

Die Beobachter lieferten ihre Informationen -gegen Gebühr-
bei Pfip persönlich ab und bekamen zur Belohnung noch einen Wein.

Nun tagte wieder der Familienrat- diesmal mit allen Bewohnern.

Bald kam der Pfarrer wieder einmal auf Schnüffel- oder Missionstour
und traf dabei zu seiner großen Überraschung diesen ganzen Familienrat
- mitsamt den Kindern - in der Gaststube vor.
Noch überraschender war, daß auch der Herrmann und die Moni und die Köhlers anwesend waren..
Was ist denn hier los? Eine Revolution?
Erstens geht das sie überhaupt nichts an, sagte die Dora, zweitens, meinte da die Margarete, haben wir etwas zu sagen,
drittens, hoben die beiden alten Köhlers an- haben wir ein Hühnchen mit dir rabenschwarzen Vogel zu rupfen..
Dabei bekam der Pfarrer haarklein aufs Brot geschmiert, was er anstellt, wenn er in Rennerod "zu tun" hat.
Ein Pfarrer wird nicht rot, im Gegenteil, er versucht immer sich herauszuwinden und rein zu waschen-
diesmal ging das nicht, zu viele Leute standen gegen ihn
und da waren noch die Zeugen, die man jederzeit holen könne..
Was wollt ihr von mir?
Seine Stimme klang nicht mehr so missionarisch.
Wir wollen in Ruhe gelassen werden und:
Das Amt des Schulzen, den Schultheiß solle er ablegen -
Gründe dazu würde er bestimmt leicht finden, mit seiner seifigen und wortgewandten Art..
Er schluckte und sagte nichts mehr- ging spornstreichs heimwärts, ohne sich zu verabschieden.

Bald darauf ging das Amt des Schulzen wieder auf den Allmendehof über.
Über die Gründe war nichts zu erfahren - außer, daß das Pfarramt und das Schulzenamt zu viel Aufwand für eine Person sei..

Dieser Familienrat war nie so groß gewesen und selten so fröhlich- es wurde bis in die Nacht gefeiert,
sogar die sonst so vorsichtigen Köhlers gingen aus sich heraus und waren ausgelassen.

Der Pfarrer hat sich nie wieder in Rennerod blicken lassen, ist aber standhaft im Dorf geblieben.

Leute vom Freihof und auch Herrmann und seine Familie- haben sich nie wieder im Dorf blicken lassen,
Kirche hin, Glaube her.

Der neue Schulze war ein Freiherr von Katzfurth, ein Angehöriger des sogenannten "niederen Adels",
ein ruhiger Geselle, der froh war, wenn er seine Ruhe hatte- ähnlich wie damals der alte Sägewerksbesitzer..

Rudolf und Dorthe haben den Laden in Holland und das Haus wieder in Ordnung gebracht und ..
die Gelegenheit ergriffen, mit den beiden Schwagern die Überfahrt nach Amerika zu machen.
Das Geschäftshaus hat gutes Geld gebracht,
es war eines der wenigen intakten Häuser dieser Straße in Amsterdam.
Mit dem Geld konnten sie locker alles bezahlen und - sie hatten ja noch Geld von den früheren Unternehmungen.
Sie waren heilfroh, daß sie den Laden in Rennerod nur gemietet hatten, sonst wären alle Sicherheiten weg gewesen.

Man hörte so viele Wunderdinge aus Jamestown, Virginia - dort lag die Zukunft!

Pfip und Margarete haben nie Kinder bekommen, Grode und Elisabeth dafür um so mehr:
Zuerst mal eine Marga, diese Erinnerung war man einfach schuldig- -
getauft wurde die Kleine nach Familientradition im Nachbarort.

Die Fürstenhäuser haben sich wieder auf die Vergabe von Poststationen geeinigt,
schon weil eine Vergabe dieser Tätigkeiten als ein gut zu verkaufendes Privileg Geld in die Kassen brachte.
So kam es, dass der Freihof wieder eine Fürstliche Poststation wurde-
freilich war dieser Titel nicht billig, er hat aber auch mehr als genug eingebracht.
Nur noch ein kleines Schild mit dem fürstl. Wappen und dem Schriftzug:
"Nassauische Poststation."

(Die Sache mit den Erbteilungen der nassauischen Fürstenhäuser gärte noch lange weiter,
weshalb man sich nicht klar festlegte und lieber einen gemeinsamen Nenner suchte)

Nun waren wieder Hilfskräfte auf dem Freihof nötig, sonst wäre die Arbeit nicht zu bewältigen gewesen.
Bei Karl und Dora war alles im gleichen Takt, die machten alles alleine
und blieben am liebsten ganz für sich.
Es gab wohl kaum eine junge Familie, die derart einsiedlerisch lebte!
So wurde der Zaun zwischen den beiden Vorderhäusern und dem hinteren bäuerlichen Teil des Freihofes
deutlich verstärkt und das Tor abgeschlossen.
(Die Schlüssel waren nur bei den Familien, den bekam sonst niemand.)
Die Zäune um diesen Bauernhof waren sehr dicht und sehr stachelig durch die Brombeer-Hecken.
So leicht kam niemand in diese Einsiedelei, das war mal klar.

Eigentlich wurde nur noch aufgeschlossen, wenn Bauernwaren ins Vorderhaus geliefert wurden.
Die Kinder waren noch klein und mußten noch nicht zu Schule.

In den Ferien kam die Ursel, die Musiklehrerin aus Limburg zu Besuch-
auf diese Weise kam den Kleinen entsprechender Unterricht zugute,
noch bevor deren Schulzeit angebrochen war.

Dem kleinen Helmut gefielen die Hühner besser,
die Blondlocke Thea war sehr musikalisch, was der Ursel sehr gefiel..

Herrmann und Moni bekamen keine Kinder, sie nahmen sich gleich zwei der vielen Waisenkinder,
die ihre Eltern durch die vielen argen Krankheiten in der Gegend verloren haben:
Sebastian und Paul, die irgendwo aus dem Siegener Raum kamen und vagabundierend aufgegriffen wurden.

Die Beiden waren allerliebst- sie werden wohl so acht und zwölf Jahre alt gewesen sein,
als sie im Sägewerk ihre neue Familie gefunden haben.
Es stellte sich heraus, daß die beiden Jungen nicht mal Brüder waren,
sie waren aber aus der gleichen Straße, eben von dort, wo die Seuche gewütet hatte.

Für Buben - und das waren sie allemal - ein gefundenes Fressen,
bei all dieser Technik und den Wagen und den riesigen Gäulen.
Sie lernten schnell, gingen erfolgreich zur Schule und waren ihren Alterskameraden
ein ganzes Stück voraus,- daran war ihr Schicksal beteiligt,
das sie früh zu Waisen hat werden lassen.
Sie mußten - ob sie wollten oder nicht- ihr Leben selbst in die Hand nehmen.
Unterwegs packten sie mit an, wenn kleine Hilfskräfte irgendwo gesucht wurden-
bei der Ernte und bei dem Hüten von Gänse-Scharen.
Man kann von Glück sagen, daß es nicht Winter war zu dieser Zeit,
denn im strengen Winter des Westerwaldes wären sie wohl jämmerlich erfroren!