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Die Kur.
Man sagt, heute, im Jahr 2021 gäbe es keine Kuren mehr, nur noch bei schwersten Erkrankungen bei Krebsnachsorge und ähnlichem. Ansonsten zahlten das die Kassen nicht mehr - schade, denn die Kur war ein wertvoller Bestandteil der Rekonvaleszenz. (Eigentlich ist diese Eindeutschung dieses Wortkonstruktes schlimm anzusehen - reconvalescentes wäre stimmiger) Egal- heute nennt man die "Kur" eben "Rehabilitation, na bitte - T wieder heißt jetzt Twi ks, sonst ändert sich nix? So einfach ist das nicht. Der Hausarzt stellt sich quer, weil sein Kassen-Budget schnell ausgeschöpft ist und er dann aus eigener Tasche draufzahlen muss- ein Unding. Meine Kasse würde Kuren nach wie vor zahlen, weil ich beim Arzt als "privat" gelte und somit in diesem "Kassenarzt - Budget" nicht auftauche.
(Kleine Beamte sind eine aussterbende Gattung offenbar, was mir ein wenig Angst macht.. vielleicht sollte man Artenschutz oder beantragen oder vom Denkmalamt betreut werden?)
Story oder Realsatire:
Die drei Kurgäste an einem Tisch. Szene:
Im K etteler Sanatorium in Bad Nauheim..
Sie kamen aus verschiedenen Ecken des Landes, was man am Dialekt leicht heraus hören konnte.
An einem der vielen Tische des Speisesaales, direkt unter dem riesengroßen schwarzen Christ-Kreuz, mit Blick auf den Eingang hat man sich zufällig zusammen gefunden. Keiner kannte keinen, im ganzen Speisesaal nicht.
Dieses gepflegte 3 stöckige Gebäude aus der Gründerzeit war wohl einmal eine Familien-Villa, die Gartenanlage war verkauft worden, denn dort arbeiteten Baufachleute an einem Neubau mit etlichen Wohnungen. In der ganzen Straße, es war eine Sackgasse mit Alleebäumen umsäumt, standen ebensolche alten Villen; mit Erkern und Ecken, Türmchen und Gesimmsen, Bleiverglasungen und Buntglas, Tiffany-Lampen, Schmiedeeisen- massiven Toren und schweren eingemauerten Aufgängen - düster bedrohlich fast und ein wenig unheimlich.
Sie hatten ihre Koffer in der Eingangshalle gelassen und warteten hier auf die Verwaltungsangestellte, die mit dem Anmeldezettel kommen wollte. Es war gerade Mittagszeit und der Wagen mit der Suppe kam aus der Küche gerollt.
Beim Löffeln kam ein unverbindliches, fast scheues Vorstellen:
"Ich bin der Hugo, bin Metaller und wurde von der Knappschaft hierher geschickt, weil in deren Kurklinik kein Platz mehr war, ein wenig altmodisch dieser Kasten!" Karl war Verwaltungsangestellter und "zahlte zu", weil dieses Sanatorium deutlich teurer sei- so meinte er- als die einfachen Angebote. Ben sagte nicht viel- nur: Mahlzeit!
Hugo ist ein alter "Kurhase" und hat schon gleich zu Beginn den 4. Stuhl weggeräumt an einen der Nachbartische- 4 Leute an einem Tisch ist unkommod und würde die Aussicht auf den Eingangsbereich verbauen. So sieht man gleich was und wer in den Saal kam.
Die Suppenteller wurden abgeräumt und so konnte Hugo einen lobenden Kommentar ob der vortrefflichen Krabbensuppe loswerden. Die Serviererin war sehr erstaunt und versprach das Lob an den Koch weiter zu reichen. Dieser kam bald um die Ecke, um diesen seltenen Gast persönlich zu sehen und fragte diesen, ob er "etwas Nachschlag" wolle. Klar! So gewinnt man Freunde..
Die beiden Schicksalsgenossen trugen immer Trainingsanzüge, Hugo ein Sakko und Schlips. Immer trug er eine solche Kombination, schon morgens beim Frühstück, man sah ihn während der ganzen Kur nur ein einziges Mal ohne..
Man unterhielt sich über die "Sachen, die man in der Kur machen kann, ohne erwischt zu werden", denn um 22 Uhr wurde die Pforte geschlossen. Tanzbars und ähnliche Dinge wurde als Tipps weiter gereicht. Hugo las lieber auf seinem -blitzsauberen- Zimmer und ging zwischen den Anwendungen zu Fango, Massage, Elektrotherapie und Bädern, ärztlichen Zwischenuntersuchungen gerne durch die Fußgängerzone der Stadt und durch diese hindurch zum Aussichtspunkt auf dem kleinen Berg, von dem aus man in das weite Tal sehen konnte. Etwas weiter weg fand er eine Stelle, die bei schönem Wetter das ganze Frankfurter Talbecken preis gab. Die Skyline und die anfliegenden Flugzeuge in Reih und Glied.
Hugo hatte folglich immer Appetit und aß mit Hingabe, fragte nach einem Rezept - der Koch gab gerne Auskunft - während die beiden im Trainingsanzug immer nörgelten und Bier tranken. Hugo nur Wasser - das säuerliche Mineralwasser der Kurstadt.
Man sah die Beiden ab und an mit "Kurschatten", obwohl sie angeblich "gut verheiratet" seien und schon erwachsene Kinder hatten. Hugo war deutlich jünger und ebenfalls verheiratet, zwei Kinder..
Eines Tages ging er wieder den Kurpark-Weg bei den großen Gradierbauten entlang, dort wo die Bänke zur Sole-Inhalation standen.
Immer mal eine 1/4 Stunde salzige Luft atmen, das tat Hugo gut, gefiel seinen Bronchien, die von der Metropole arg stapaziert worden waren.
Seine Wohnung lag direkt an einer der großen Einfallstraßen der Metropole, der Balkon war schon seit Jahren nicht mehr benutzbar, weil die Autoströme jedes Jahr heftiger flossen oder besser .. stanken.
Obendrüber die vielen Verkehrsflieger, jede Minute einer..
Hier in der Kurstadt war alles still und grün und angenehm - welcher Gegensatz! So empfand das auch seine Frau, die Sonntags ihren Besuch bei ihm machte und wo sie gemeinsam ein Eis am Kurpark zu sich nahmen. Zuvor ging man vertraut nebeneinander um den großen Teich im Park und erzählte sich die Tagesereignisse, vom Kontostand bis zu den Klassenarbeiten der Kinder.
Hugo versuchte die Anwendungen so legen zu lassen, daß der Vormittag frei war - so waren längere Spaziergänge von 3 Stunden locker möglich, bis zur Massage vor dem Mittagstisch.
Danach schlief er eine halbe Stunde und ging zur Elektrotherapie oder zum Fango - bis zur Kaffeezeit.
Ein wenig Gruppengymnastik und ein Sprudelbad in dem guten Thermalwasser - viel Geschlendere in den alten Gassen der kleinen Stadt und dann war auch schon wieder der Abendbrot - Tisch gerichtet mit seinen kalten Platten.
Die beiden anderen Kurgäste waren dabei kaum jemals anwesend - drei waren inzwischen "abgehauen", wie uns die Leiterin enttäuscht sagte. Unser Tisch aber hielt in Treue fest.
Hugo ging mit seiner Frau zum Kurkonzert und sie lauschten den wunderbaren Darbietungen, die beiden anderen Tischgesellen schliefen - sie "mussten fit sein" für die lange Nacht im Tanzkaffee.. wie sie am nächsten Morgen mit dicken Augen berichteten - ein Kumpel habe sie durch das Fenster im Erdgeschoss herein gelassen - Ben tat das.
Der Therapeut meinte leutseelig zu Hugo: Ja ja, dieses Tanzcafe - dort sind nur Greise, die sich aneinander festhalten und langsam hin und her schwanken- es fehlt nur noch das Spinnengewebe und die Fledermaus, dann wäre der Gruselfilm komplett- beide lachten herzhaft.
Ben versäumt etliche Anwendungen und jeder wunderte sich, wo sich dieser Mann aufhalten mochte, keiner sah ihn an den bekannten Plätzen und illustren Ecken auch nicht. Den Golfplatz hatten die anderen Kurgäste an den Nachbartischen auch schon im Visier gehabt und dabei waren überall deren Späher auf der Strecke. In so einer Kur hatte man 4 volle Wochen Zeit dazu, ein wenig Detektiv zu spielen. Und das Tratschen übereinander zu pflegen..
Dabei war es vollkommen egal was einer verbrach oder nicht oder wo er oder sie sich tagsüber herum trieben oder in der Nacht taten.. man würde sich nach der Kur kaum jemals wieder sehen, hier ist jeder ein "Einzelkämpfer" bei der Schlacht am kalten Buffet !
Karl flüsterte Hugo zu, als sie -wie immer- vor Ben am Frühstückstisch saßen: "Ich glaube mit Ben stimmt was nicht, der erzählt nichts von sich und von daheim oder von seinem Job.." Na ja, der ist auch ganz schön fertig, wenn ich den mal sehe - in der Stadt habe ich ihn einmal gesehen, er schleppte an zwei schweren Taschen und ist in einem der alten Häuser der Altstadt verschwunden, dort wo das Schaufenster des alten gammeligen Waffengeschäftes ist." Ach, ich dachte der Laden wäre schon lange geschlossen und die Auslage läge nur zur Tarnung oder als Ausstellungsstücke dort - alles alter Kram und etwas eingestaubt, die Preise sind kaum mehr lesbar!"
Ja, meinte Hugo- dort gehe ich ab und an entlang, wenn der Weg von der Fußgängerzone Richtung Eissalon führt.
Mir kam der Laden auch seltsam vor- so so, dort geht Ben hin?
Ja und schwer beladen!
Seltsam.
Sie versprachen sich, die Sache zu beobachten und verlegten zuweilen -mit leichten Schwierigkeiten- den einen oder anderen Anwendungstermin.
Zufällig sah Hugo den Ben die Treppe hinab zur Pforte vorbei schleichen, im Trainingsanzug und Turnschuhen.
Seltsam, noch vor dem Frühstück!
Zu dieser Zeit gab es auch noch keine Fango und kein Schwimmen- wohin der wohl geht?
Dieses Gespräch zur Frühstückszeit hatte eine Frau vom Nachbartisch aufgeschnappt:
"Entschuldigen sie, daß ich mich einmische, aber auch mir kam dieser Knabe seltsam vor - ich sah ihn noch spät in der Stadt, als ich mit meinen Mann dort essen war, wissen sie - er ist Schichtdienstler und kann nur um diese Zeit kommen und das auch nur alle 10 Tage, da drückt die Leiterin eben ein Auge zu."
Hatte er schwere Taschen dabei?
Ja, das stimmt, er zog diese mehr als daß er sie trug..
Sie fand Ben eines Tages auf einer Bank im Kurpark, er war fest eingeschlafen und die beiden Tragetaschen hingen an der Lehne. Sie waren leer, schlapp und ausgeleiert baumelten sie im leisen Wind.
Karl meinte dazu: Ich werde mich an Ben vorsichtig anhängen und schauen was der so treibt - das soll mir der Spaß wert sein. Wer will mit mir wetten - was ist des Rätsels Lösung?
Der weibliche Kurgast des Nachbartisches meinte:
Wir drei Frauen haben auch schon darüber gesprochen und die wildesten Spekulationen angestellt.
Ich vermute, daß er irgendwas klaut, Bärbel meinte er habe jemanden zu versorgen und Ella ist der Meinung, daß ein ganz anderer Grund vorliege - aber welcher, das könne sie nicht sagen, ja nicht mal erahnen.
So weit waren Karl und Hugo auch schon gekommen.
"Im Westen nichts neues" murmelte Karl und verabschiedete sich: Ich bin zum Bier vor dem TV verabredet - der Tag hat mich ziemlich ermüdet- dieser blöde Sport und dieses Kur-Gehampel - bis Morgen!"
Weniger Kur als Wandern bestimmte das Bild.
***
Karl schlich hinter Ben her - noch vor dem Frühstück und mußte sich sputen, denn Ben ging schnell und zielstrebig die feine Kurstraße hinab Richtung Bahnhof. In der Bushaltestelle standen bereits die Fahrgäste wartend herum, bis die Linie 33 kam, vor dem Bahnhof hielt ein weißer "Sprinter" und warf gut 20 Pakete ab. 3 Männer gingen mit weiten Tragetaschen darauf zu und verluden diese Pakete darin um dann mühsam mit der schweren Last den Weg zu den Wohnstraßen zu nehmen.
Vorsichtig ging Karl hinter Ben her, die beiden anderen "Täter" gingen mit ihren schweren Taschen jeweils andere Wege.
Wieder im Sanatorium angekommen, hatte Karl das Frühstück verpaßt und kam gerade noch eben zeitig zu seiner Anwendung an diesem Morgen. Fango.
Morgens Fango, Abens Tango -lachte Bärbel..
Die Behandlerin ist gerade zur Tür hinaus, da ging wieder die Türklinke und Hugo reichte schnell eine Tasse Kaffee und ein gut belegtes Brötchen zu Karl ins Behandlungszimmer herein, bevor er wieder davon eilte..
Erst am Abend saßen die beiden Helden wieder zusammen beim Mahl unter dem großen Kreuz.
"Na was war, sag schon!"
Es wird dich enttäuschen (Sie waren inzwischen längst beim "du"), aber der Ben trägt nur die Zeitung aus, von Haus zu Haus! Wie ich in einem Gespräch unter den Therapeuten zufällig gehört habe, ist Ben Sozialhilfeempfänger und muß sehen, wie er zu einem kleinen Taschengeld kommt, das eben in einer Kur unerläßlich ist.. er will nicht mittellos erscheinen.
Lange Gesichter, kein Verbrechen, kein Diebstahl oder Hehlerei, einfach nur Armut..
Karl sagte säuerlich zu Hugo: Du hast mich ein Bier pro Gast gekostet, denn heute ist das erste Mal, wo wir dich ohne Schlips sehen- Schweinerei, ich habe die Wette verloren, wo der ganze Saal mitgemacht hat. Gelächter an allen Tischen!
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