plaetzchenwolf - Der Gärtner, fiktive Story
Landfotografie



Der Gärtner, eine fiktive Sache



Er saß am offenen Fenster, das Gesicht in die Sonne, den Blick auf die größere Grüninsel mit Grillplatz und Kinderspielgeräten und Sandkasten, was wie eine Oase zwischen den Wohnblöcken ein Idyll abgab.
Ein großer Plantsch-Brunnen als magischer Anziehungspunkt für die Kids, so freute er sich.
Die Vögel sangen, vom Verkehrslärm der großen Stadt und ihren 4 spurigen Straßen um den Block herum hörte man hier kaum was, da die Häuser zehn Stockwerke hoch gebaut und wie eine Lärmschutzwand wirkten.
Einer dieser Wohnblocks ist ein Alten- pardon- Seniorenheim.

Roland hatte Glück und bekam Zimmer 517, also im 5. Stock und nach dem Park hin gelegen- nicht zu hoch, so konnten die Stimmen der Kinder noch zu ihm dringen und nicht zu weit unten, um nicht im Mittagsschlaf gestört zu sein.
Sein Zimmergenosse sprach nie viel, seit einem Jahr liegt er nur noch im Bett und wird gefüttert und gewaschen, bekommt die Windel gewechselt und frische Wäsche etc.
Im Zimmer 517 war es also sehr ruhig, das TV Gerät blieb ausgeschaltet, keine Nachrichten und kein Radio.
Ab und an kaufte Roland sich eine Zeitung und ein kleines Fläschchen Wacholder-Schnaps am Kiosk jenseits der vierspurigen Straße vor dem Block.

Er hatte es mit den Knochen, das kommt von der harten Arbeit als Gärtner, sonst war er gesund - irgendwas bekommt man immer, wenn man die 85 erreicht hat, so sinnierte er.
Na ja, es war ja auch ein schönes und erlebnisreiches Leben, das muß man sagen.
Nun sitzt er hier am Fenster und wenn das Wetter schlecht ist, geht man eben in die Mensa um einen Kaffee zu trinken oder ein wenig mit anderen Bewohnern Karten zu spielen.
Dort ist ein großes Aquarium und der Info-Schalter, der die Post für alle verwaltet, dort werden Vorträge und Seminare gehalten oder man macht in der Bewegungsgruppe mit, die neben dem eingebauten Therapie-Schwimmbecken ihren Raum hat.
Eigentlich lebt man wie in einem Hotel, bezahlt von der Pflegeversicherung mit Eigenanteil oder privat oder.. bezahlt vom Sozialamt.
Er lächelte, ja ja, alle schimpfen auf die "Arge", ich finde die prima, denn ich bekomme jeden Morgen frische Brötchen und ein gutes Frühstück, Mittagessen zur Wahl und Abends Fitkost oder Käsebrote, Heil- und Mineralwasser, Säfte und Tee so viel man will.
Nein, mir geht es gut.
Der Lebensabend quasi in Hotelqualität mit ärztlicher Betreuung und Therapeuten - zum Nulltarif!

Er war sein Teil zufrieden, auch mit seinem zuvorigen Leben, das er in einer Erzählung festhalten wollte - eher als Beschäftigungstherapie als für die Nachwelt, denn Nachkommen oder auch nur Angehörige - hatte er nicht vorzuweisen.
Er war immer alleine und doch in Gesellschaft..
Deshalb hatte er immer seinen Block und Stift dabei, zusammen gehalten mit einem Einmachgummi.
Vorne stand "Roland" drauf, mehr nicht.
Ein paar Kontakte zu den anderen Heimbewohnern hatte er, ansonsten waren ihm eigene Wege lieber - weit vom Heim entfernte man sich sowieso nicht mehr in diesem Alter, nur in den Park, zum Brunnen, zum Kiosk und zum Wollwoth in der Nähe, wo es Unterwäsche und Batterien für die Uhr, Süßkram und Schreibutensilien, Lesebrillen, Lupen etc. gab.
Die hatten eine Cafeteria, wo man auch herzhafte und "verbotene" Speisen bekam.
Sein Taschengeld reichte, um zwei mal im Monat dort hin zu gehen und Kartoffelsalat mit viel Maio und Frikadelle oder Pommes rot/weiß oder eine Currywurst zu verspeisen und ein Glas Bier dazu.. hier sieht und trifft man so manchen interessanten Typen und spricht ein paar Takte.
Otto sah er seit 15 Jahren dort, ein bäriger Typ mit dickem Bart, der heute noch Bilder malt.
(Die keiner haben will)
Man lacht über sich und über die anderen Menschen, über den Wahn, die Gier und den Geiz, bedauert die Dummheit von Kriegen und so manches andere schräge Ding.

Er schrieb in seinem Zimmer weiter in das Notizbuch:
Meine Pflegeeltern waren einfach nur geldgierig und wollten ihr neues großes Haus abbezahlen.
Deshalb suchten sie Pflegekinder, für die man ordentlich viel Geld vom Staat bekommt.
So war auch das Findelkind Roland darunter, den wegen seiner leichten Hasenscharte kein anderes Paar wollte.
Nur dieser Sozialarbeiter, der mit seiner Frau, einer Logopädin verheiratet war.
Damals, vor 80 Jahren.

Roland ist immer nur mittelmäßiger Schüler gewesen, die Lehrer mochten ihn nicht, wegen seiner "Fehlbildung", die damals noch mehr diskriminierend wirkte als heute.
So schaffte er nur die Volksschule und ging danach zum Gärtner in die Lehre.
Er war besonders gut im Kopfrechnen, da war er stolz drauf.
Der kurze Fußweg zur Gärtnerei war für ihn ein Pluspunkt, das spart die Buskarte.
Roland wurde der bekannte "grüne Daumen" bescheinigt und so schloß er die Lehrzeit mit guten Noten ab.
Der Lehrherr konnte ihn jedoch nicht übernehmen, weil die Firma zu klein war und bereits zwei ältere Gesellen bezahlen mußte.
So packte er - kaum 18 Jahre alt geworden - noch drei Jahre die Ausbildung zum Pomologen obenauf.

Damals war man erst mit 21 volljährig und so zog er los, ging auf die Walz, wie man so schön bei den Zimmerleuten sagt.
Sein Gärtnerberuf kannte diese Form des Erfahrungsammelns eigentlich nicht, weshalb er auf eigene Faust auf Wanderschaft ging.
Sein Konto auf der Bank hat er nicht angerührt, die spärlichen Lehrlingsgehälter blieben dort gut verwahrt liegen.
Er steckte das Abschlußzeugnis der Volksschule und der beiden Lehren mit dem Personalausweis und Sparbuch gut verpackt ein.
Unterwegs ging er etliche Wegstrecken mit anderen Gesellen einher, unterhielt sich gut und hörte dies und das.
Er erzählte von der Geldgier seiner Pflegeeltern und hörte, daß man annahm, er sei wohl in Kroatien geboren- so vom Typ her würde das passen, meinten sie.

Bald kam er zu einem Bauernhof und fragte um Arbeit nach.
Der stadtnahe Betrieb im Rhein Main Gebiet war auf Kräuter für die grüne Soße, eine bekannte Spezialität, die schon Goethe erwähnte- eingerichtet.
Ferner züchtete dieser Bauer seltenere Kartoffelsorten.
Dort blieb Roland ein halbes Jahr und bekam einen guten Lohn und eine alte Wanderschäfer-Ausstattung, die schon Jahre in der Scheune hängte - der Bauer trug sie, bevor er hier seßhaft wurde.
Von nun an ging Roland zünftig wie ein Wanderschäfer mit langem Mantel und Stab und breitkrempigem Hut durchs Land Richtung Süden.
Er arbeitete ein paar Wochen als Helfer bei der Hopfenernte, ein paar Wochen bei einem Obstbauern, wo er Bäumchen pfropfte - er war ja Pomologe - und so konnte er neue Stiefel kaufen und noch etwas aufs Sparbuch tun.
Zu viel Geld sollte man auf der Walz nicht einstecken haben, diesen Tipp der Wandergesellen nahm er gerne an.

Herrlich, wie die Vögel sangen, wenn er im Gras schlief - am hellichten Tag ruhte und erst zwei Tage später weiter zog.
Er war ungebunden und endlich frei!
Mal nächtigte er in Feldscheunen, mal unter einem Felsvorsprung, mal unter einer Brücke - wie es gerade kam.
Bei Behörden hat er sich nie gemeldet, hat niemals Unterstützung beantragt und sich nie um Krankenkasse oder Versicherungen oder Steuer oder Rundfunkgebühr gekümmert, - dafür blieb im das Wort "Kredit" und Schulden erspart.
Er umwanderte die Städte und größere Orte, um nicht als "Vagabund" verhört zu werden.
Nein, dieser Peinlichkeit mußte nicht sein.
Er war schließlich zweifacher Geselle und "ehrbar", wie die Zünftler das nennen.
Am erstbesten feineren Wohnhaus am Ortsrand, das Pflege nötig hatte, fragte er um Arbeit nach und bekam den Auftrag, die Hecke zu schneiden, den Rasen zu mähen und ein paar Beete zu retten.
Er arbeitete unter der Bedingung, dort verköstigt zu werden und in einer Bettstatt ruhen zu dürfen.
Die Auftraggeber waren schon deutlich älter und froh, die kräftezehrenden Arbeiten getan zu bekommen.
Roland hat gut und ordentlich gearbeitet und ebenso gut und ordentlich gefuttert, in der Remise geschlafen und ist dann - am 3. Tag am frühen Morgen aufgebrochen zu neuen Tagen.
Er bekam zuvor seinen Lohn in Form von Trinkgeld.
So brauchte es keine Rechnung und keine Quittung und keine Sozialabgaben und keine Steuer.
Er bekam fortan keinen Lohn mehr, nur noch freiwillige Zuwendungen, Geldgeschenke und Verpflegung.

Firmen lehnten diese Art von Kleinaufträgen meistens rundherum ab, damit gaben sie sich nicht zufrieden, daran konnte nicht genug verdient werden.
Roland freute das und nannte das seine Lücke, in die er geschlüpft sei - die Wanderburschen verfuhren ähnlich, meldeten aber ihr Einkommen an.
Roland lebte nur von der Hand in den Mund.
Er arbeitete auch nur jeden 3. oder 4. Tag..
Bald kamen sie an einen Wegestern und verabschiedeten sich kameradschaftlich und wünschten sich eine gute Zeit.
Vorgesprochen hat Roland nie- seine Zunft war seine eigene, nicht anerkannt.

https://www.kar abag.de/magazin/artikel/walz-wanderjahre/

Vor einem Zimmermannsbetrieb stand ein großes Fuhrwerk, das nicht abgeladen wurde - einer der Mitarbeiter wurde gerade vom Krankenwagen abgeholt, weil er unter einen Stapel Holz geraten ist.
Roland half sofort und lud die Bretter in das Lager, wie es ihm der Meister sagte.
Er schuftete bis in die Nacht - es war Regen angemeldet.
Dann schlief er auf den Sägespänen ein.
Am Morgen kam die Frau des Meisters und holte ihn zu einem deftigen Frühstück mit Kaffee und Milch und Rauchfleisch und Honig und frischen Brötchen ab.
So blieb er noch einen weiteren Tag, half alles sauber zu kehren und den Hof aufzuräumen, bekam ein gutes Taschengeld und ging weiter seiner Wege.

Er nahm sich immer die Zeit, ein Mittagsschläfchen von einer knappen halben Stunde zu halten - egal wo und was er gerade arbeitete.
Ob es regnete oder die Sonne schien.

Die Pflegerin sah nach seinem Zimmergenossen und wickelte ihn, gab ihm ein Vitamingetränk und bezog das Kopfkissen neu.
Er sah aus dem Fenster und hatte spontan die Idee, in den Speiseraum zu gehen, um dort einen Kaffee und ein Stück Kuchen zu nehmen.
Dort am Tisch waren Kurt und Bodo und Lena und verzehrten ihr Stück Bienenstich, das Highlight der Woche, wie man einstimmig meinte.
"Na du Schriftsteller, wie gehts?"
Na ja, der Anfang ist geschafft.
"Was schreibst du eigentlich, einen Roman oder Prosa?"
Nein, es geht nur um mein Leben, eine Art Autobiografie, ein Mix aus Erinnerung und Lebenseinstellung.
Heute sagt man "Vita" dazu, denn auf Deutsch ist man uncool - alles lachte herzhaft.
"Ich habe immer nur gemacht, wonach mir gerade der Sinn stand!"
Danach gingen sie gemeinsam durch den Park, ruhten sich auf der Bank aus, sahen den spielenden Kindern zu.

Im Zimmer zurück, schrieb er weiter in sein Notizbuch:
Ich habe immer nur in den Tag hinein gelebt und getan, wonach mir der Sinn stand.
Die Freiheit ist mir immer das Wichtigste gewesen.
Die Sonne lachte mir jeden Tag, auch bei Regenwetter, im Winter und im Nebel oder Sturm.
Den Wind im Gesicht spüren, den Schritt durch die herrliche Natur zu lenken, wohin man will - das ist es, was mir das Leben schuldig ist..

Kurt war Ingenieur und Bodo Möbelverkäufer, Lena versauerte in der Stadtverwaltung und bekam eine goldene Uhr zum Abschied.
Bodo lebte allein, nachdem er geschieden war, Kurts Frau starb an Alzheimer, Lena ist stolz darauf, Fräulein zu sein:
Ich weine meinem Job keine Träne nach, der mit die Rückenprobleme gebracht hat!
Sie frug: Läßt du uns an deiner Story teilhaben?
Aber besser in Etappen erzählt, denn wer weiß, ob jeder von uns das Ende hören wird.
So jung sind wir nun auch nicht mehr!
Du bist noch gut beieinander, das macht wohl die freie Natur, das Leben auf Wanderschaft?

Lena weiter: Mach doch bitte jeden Tag eine kleine Lesung, vielleicht können wir bei der Fehlerkorrektur helfen?
Das gefiel Robert, denn ohne "Korrekturlesung" sind viel zu leicht Fehler dabei.
Er dachte auch ein wenig an den modernen Begriff "Outing".. denn sein Leben lief außerhalb bürgerlicher Normen bis zum 70. Lebensjahr, in dem er sich beim Sozialamt meldete und nach etlichem hin und her in das Altenheim verfrachtet wurde.
Wie hat man sich auf dem Amt gewundert, daß er nichts hatte- keine Pflegeversicherung, keine Krankenversicherung, keine Lohnsteuerbescheinigung, keine Gehaltszettel oder Lohnbescheinigungen, kein Girokonto, keine Scheckkarte, kein Sozialversicherungsausweis - eigentlich existierte er nicht, wäre da nicht der Personalausweis und die Gesellenbriefe und Zeugnisse gewesen.
Rente hat er auch keine eingezahlt und keine Rundfunkgebühren.
(Er besaß nichts..)

Die drei Kaffeetisch-Gesellen staunten.
Ein Auto oder Führerschein hattest du wohl auch nie?
Ganz genau, antwortete Roland, nee - dieser Gedanke ist mir nie gekommen.
Lena meinte: Dann hast du wohl auch nie Rente eingezahlt?
"Ich nehme an, daß die Lehrherren das taten, das weiß ich nicht, das war mir auch egal, genau wie die Krankenkasse- mir waren unterwegs so viele Heilkräuter, mit denen ich gesund blieb."
Kurt lachte aus vollem Hals und meinte:
Ich habe gut verdient und alles irgendwie in den Sand gesetzt, habe viel Geld ans Finanzamt gezahlt und in die Rente, Heizkosten und Ratenkredite bedient und du hast einfach die Wanderstiefel angezogen und bist in Gottes freie Natur entschwunden?
Das ist ja sagenhaft!
Keine Behörde hat von dir Notiz genommen?
"Nein, ich bin allen staatlichen Stellen geschickt ausgewichen, das gebe ich zu."

Ein paar "Flocken" habe ich auf dem Sparbuch, von dem keiner wußte.
Diese Notgroschen wurden nie angerührt, da drauf kam das Geld, das ich nicht zuviel einstecken haben wollte.
Normalerweise reichte dieses freiwillige Trinkgeld nur für die nötigsten Dinge, die verschlissen werden - Hemd, Hose, Unterwäsche, ab und zu ein paar Stiefel, Waschzeug und so.
Unnötiges Zeug blieb mir fern - so konnte ab und an etwas auf dem Sparbuch eingezahlt werden.
Meine Auftragsgeber waren eigentlich fast alle recht großzügig und freundlich zu mir.
Meine liebste Klientel waren Berufstätige, die keine Zeit oder Lust hatten, sich im Garten die Hände schmutzig zu machen.
Die meinsten Leute hatten auch keine Ahnung davon, wie man Pflanzen pflegt.
Meistens war ich nach zwei Tagen mit dem Auftrag fertig, bevor die Nachbarn dumme Fragen stellten.

"Was hast du gemacht, wenn dich eine Krankheit erwischt hat?"
- Tja, Lena- das ist nicht so wild - ich bin zu einem Allgemeinmediziner, der froh war, daß sein Rasen und Hecke in Ordnung gebracht wurde, Unkraut aus den Wegplatten kam - etc. und wurde dafür umsonst behandelt, auch ohne Krankenkasse- es geht alles, wenn man will.
Bei einem alten Landarzt habe ich eine Grillhütte aufgestellt, bei einem Apotheker den Laden geputzt und die Wohnung, die Fenster gereinigt.. man darf sich nie zu schade sein.

Ja ja, Leistung gegen Leistung, ohne Rechnung und Abgaben- ich bin nur Wandergeselle, ein Vagabund war ich nie.
Philosophisch war mein Leben, voller Naturpoesie, bunt und spannend - was kam heute, was am nächsten Tag?
Schlafe ich im Heu mit der Tochter des Bauern oder alleine in einer Garage auf einem alten Feldbett, liege ich im Kornfeld mit der Magd oder mit der Witwe im Ehebett?
Selten verweilte ich länger, immer trieb es mich hinaus in die Ferne, fand einen Spargelbauern oder Winzer, bei dem eine zusätzliche Kraft nicht auffiel, weil dort schon etliche Fremdarbeiter beschäftigt sind.
Hier geht es oft locker zu und keiner fragt nach dem Woher oder Wohin.

Der Rhein hat mich schon immer gereizt, wo man von den Weinbergen die Schiffe im Tal sehen kann, den Strom und die gegenüber liegenden Hänge mit Kirchen und Burgen, Städtchen und Straßen.
Dann kamen die Büchertausche auf und so kam etwas Lektüre dazu, was ich mit großer Freude ausgekostet habe.
Mit Alkohol hat man mich nie angetroffen, aber mit so mancher netten Tochter, mit mancher braven Hausfrau im Villenviertel - im Pool!
"Oha, so einer warst du!" meinte Lena verschmitzt.

Nun muß ich aber in die Koje, das hat mich ganz schön müde gemacht, euch die Geschichte bis zum jetzigen Stand der Eintragungen zu erzählen.
Die drei Mitinsassen nickten und meinten:
Guts Nächtle! Als Roland gegangen war, meinten sie zueinander:
Wir sind aber auch müde geworden- ein wirklich spannendes Leben hat dieser Hallodri geführt, das muß man sagen.
Das ist eine echte Randerscheinung, die sich an keine Konventionen gehalten hat.
Die letzten 15 Jahre hat er gut bei uns im Seniorenheim verbracht, mit Betreuung und Freunden - wie im Hotel.
Wie er wohl innerlich mit seinem Leben klar kam?
"Nun", meine Bodo "er schreibt sich das alles von der Seele und wir sind sein Publikum.
So weit ich heraus gehört habe, hat er keine Angehörigen"

Am nächsten Tag ging Roland über die große Straße zum Wallworth, wo er sich seit 15 Jahren mit dem Bildermaler traf.
Die Beiden sind von Anfang an gut miteinander ausgekommen - hier in der Cafeteria nahmen sie regelmäßig Kartoffelsalat und Frikadelle mit Ketchup und Senf zu sich - und ein Glas Bier.
Dabei wurde alles an Neuigkeiten besprochen, was in der vergangenen Woche so passierte.
Jeden Mittwoch trafen sie sich - eine feste Tradition.
Die beiden alten Knaben ließen kein Thema aus und genossen ihr Leben ganz offensichtlich.
Von der Galerie, wo "ihr" Tisch hoch über den Kunden zwischen den vollen Regalen geht, sieht man allerlei.
Taschendiebe wurden gefasst, die Polizei kam und nahm sie mit.
Zum Schlußverkauf strömten wahre Massen in das Geschäft und kloppten sich an den Wühlkörben um profane Dinge.
Die Beiden auf der Galerie räumten das Geschirr und die Gläser auf den Wagen und gingen zufrieden zur Rolltreppe.. beide bekamen vom Sozialamt ihr Taschengeld, das sie hier gerne gelassen haben.
So, meinte er zu Otto- nur nochmal geschwind im Kiosk eine Zeitung kaufen und ab in den Park.
"Ich muß noch zum Arzt", meinte Otto, ich habe leider keine ärztliche Betreuung im Haus, so fein wie du!
Sie lachten und verabschiedeten sich.

Am nächsten Tag im Cafe-Raum erzählte Roland weiter:
"In der Zeit, wenn andere Leute Urlaub machten, hatte ich die meiste Ruhe.
Zu tun war genug, mehr als genug.
Ich arbeitete als Gärnter, Milchmann, Klempner, half Pferde beschlagen, Boote zu Wasser lassen, war Ordner bei so mancher Zeltkirmes oder Zeltdisco, Ersatz-Anstreicher an einer Brückenbaustelle, Helfer beim Straßenbau und sogar Ersatzmann beim Bestatter, wenn jemand ausgefallen war.
"Wie? Wie kann ein Verstorbener ausfallen?
"Haha, Bodo du Witzbold!
Freilich als Träger.."

Seine Zuhörerschar wuchs jeden Tag, was Roland sehr wunderte.
Rollstuhlschieber und Schmiermaxe war ich, habe Straßen gekehrt und Touristen geführt.
Einmal mußte ich auf einem abgelegenen Parkplatz eine Entbindung machen, weil der Mann ohnmächtig wurde - das Kind kam gesund zu Welt.
Bei Speditionen fuhr ich als Ersatzmann mit, war auf so manchem Dach Helfer, wenn Not am Mann war.
Satellitenschüsseln ausrichten, Bäume stutzen, Regenrinnen reinigen, eine Küche streichen, wo ein Topf hoch gegangen war.
Eine Frau habe ich aus ihrem Pool gezogen und wiederbelebt.
Einem Hausbesitzer mußte die Leiter gehalten werden, damit diese nicht immer wegrutscht im Hang- er wollte eine Überdachung am Haus entlang anschrauben.
Kleinkram - gewiss, aber so war jeden Tag etwas los und nie langweilig!

Lena fragt ihn nach dem Sparbuch- was ist damit geworden?
Nun, das mußte ich beim Sozialamt angeben.
Das Geld wurde einbehalten.
Es sollen nur 700 Euro drauf gewesen sein, wie man mir mitteilte.
Na ja, reich hat mich mein Leben in materieller Hinsicht nicht gemacht.
Dennoch war es ein sehr schönes und vor allen Dingen freies, selbstbestimmtes Leben ohne Burnout und Hektik.

***

Er schloss seine Vorlesungen und widmete sich dem Damespiel mit seinen Mitbewohnern, wie jeden Donnerstag.
Dann ging man nochmal durch den Park, denn am morgigen Tag ist ein Gewitter vorher gesagt.
Mit einem guten Buch ging er in sein Zimmer und aß nebenbei das Abendbrot, trank heiße Bouillon und schlief bald ein.

In der Nacht war Getöse, ein Streifenwagen stand im Hof, ein Krankenwagen und Getrappel etlicher Leute im Flur.
Seine Nachfrage brachte keine Antwort, die Putzfrau - die das sah, sprach kein Wort Deutsch, die Pflegerin nur gebrochen:
"Had sich umgebracht, kranker Mann"
Aha, das ist schon der 2. in diesem Monat, der aus seinem Alzheimer-Schlaf aufgewacht ist und die Schnautze voll hatte.. am Frühstückstisch sprachen sie darüber und beschlossen, mit zur Beerdigung zu gehen.

Sein Notizblock wurde voller, immer wieder fiel ihm etwas ein, so manche interessante Begebenheit.
Einmal ist ihm der Rucksack von einer Brückenmauer in den Neckar gefallen.
Er lief wie der Blitz zum Ufer, zog alle Klamotten aus und schwamm in Unterhosen hinterher.
Zurück am Ufer klatschte eine ganze Schulklasse Mädchen, die gerade einen Ausflug machten und am Flußufer ihr Brot aßen- begeistert:
Ein toller Stunt!

Eines anderen Tages im Frühling durchwanderte er eine Kurstadt in der Frühe, bevor die Ordnungshüter sich um Obdachlose kümmern und fand eine abgelegene Parkbank.
Dort verzehrte er ein Brötchen mit Wurst und trank einen Kakau aus der Tüte dazu, als sich eine ansehnliche junge Frau in Schwestern-Kleidung näherte und fragte, ob sie sich setzen dürfe.
Klar doch, warum nicht?
Sie packte ein Hörnchen aus und frühstückte.
Vermutlich hat sie gerade Pause und wollte diese bei Vogelgezwischer verleben und nicht im Krankenhaus oder Kurhaus oder wo auch immer.
Sie trank ihre Cola aus, schluckte zwei dicke rote Kapseln dabei hinunter und schrieb dabei etwas auf ihren Notizblock, so einen mit Pharma-Reklame.
Ein paar Zeilen nur, ganz sorgfältig, in Schönschrift, wie er verwundert aus dem Augenwinkel bemerkte.
Sie war hochgeschlossen bekleidet und streng frisiert.
Dann packte sie die Tüte und die Flasche weg- zuvor bekamen die Spatzen die Krümel.
Sie verabschiedete sich kurz und leise und ging flott ihres Weges.
Sicher ist die Pause zuende, dachte Roland.
Dann fand er diesen Notizzettel auf der Bank klebend:
"Ich möchte Dich heute Abend zu mir einladen.
Mozartstraße 4, 2. Stock, rechte Tür- bitte 3x kurz läuten!"

Hoppla!
Die geht aber ran!
Soll ich tatsächlich dort hin gehen oder ist das nur ein übler Gag und werde ausgelacht von einer Horde Leute?
Na ja, etwas anderes habe ich heute sowieso nicht vor, warum nicht?
Das Planen hatte er sich schon etliche Jahre abgewöhnt und so frug er den ersten Passanten, der eilig mit einer Aktentasche die Straße entlang ging.
"Entschuldigen sie, ich suche die Mozartstraße.."
- Die ist eine Parallelstraße von dieser und wies die Richtung mit dem freien Arm.
"Dankesehr"
Er stand fast vor einem Blumenladen, ein paar Schritte nur - und knapp geschafft, noch vor Ladenschuß erstand Roland einen Blumenstrauß.
Er nahm den beschriebenen Weg und fand die Mozartstraße einfach und bald auch die Nr4.
Er orientierte sich an der großen Klingelanlage;
2. Stock - Niemöller links, Derbach rechts.
Er läutete 3x kurz und bald ging der Summer, er drückte die schwere Tür auf und ging die Steintreppe nach oben - dort war die Wohnungstür nur angelehnt- vorsichtig öffnete er sie und drückte dann von innen zu.
Hallo!
"Schauen sie sich ruhig um, ich komme gleich!"
Auf dem Wohnzimmertisch brannte eine Kerze, als hinter ihm die Badezimmertür geöffnet wurde und sie hinter ihn trat - sie hatte kein einziges Haar am ganzen Körper, weder auf dem Kopf noch sonstwo - nackt wie die Natur.
Überwältigend schön und klar wie ein Bach.
"setzen wir uns und essen eine Kleinigkeit - die Pizza ist schon im Ofen"
Sie öffnete den Sekt und füllte in die Gläser ein, die parat standen.
Das ist aber eine seltsame Einladung, dachte er verwirrt und trank einen Schluck des perlenden herben Getränkes.
Wann hatte er zuletzt etwas mit Alkohol getrunken?
"Ich habe Krebs und nicht mehr lange zu leben, die Chemo hat mir alle Haare genommen und ich hatte so schöne lange blonde, die bis zum Po reichten!
Sie unterstrich ihre Worte mit gepflegten Fingern.
Ich darf dich doch dutzen? -
Ah, freilich stotterte er - wir sind im gleichen Alter.
"Wir trinken auf das Leben, die Liebe und auf das Jetzt"
Sie prostete ihm zu - sie war warm und unglaublich weich und anschmiegsam und war ohne eine Spur von Hemmungen und ließ ihren Gefühlen freien Lauf bis zum Morgen.
Dann ging sie ins Bad und kam wieder zurück ins Bett:
"Der Kühlschrank ist voll und ich will, daß das eine ganze Woche dauert, ich muß es voll auskosten- gib dir so viel Mühe wie letzte Nacht!"
Später buck sie Brötchen auf und kochte Eier, rief zum Frühstück, wo er noch erschöpft im Bett lag.
"Mein Verlobter hat mich verlassen, als er die Diagnose hörte!"
Sie sprach ganz leise, wie zu sich selbst.
Aber nun bist ja du hier und hilfst mir über die schwere Zeit.
Die Woche verging wie im Fluge, sie war ganz erschöpft, als sie ihn bat wieder zu gehen..
ich muß zur Therapie.

Roland arbeitete ein paar Tage als Packer in der Nähe, frühstückte auf dieser Parkbank- wo er sich sehr eilen mußte, um pünktlich wieder im Geschäft zu sein, sie kam aber nicht.
Nach einer Woche faßte er Mut und klingelte bei ihr an- dreimal kurz, als eine alte Frau parterre aus dem offenen Fenster zu ihm sprach:
Wollen sie zur kleinen Ella?
Da haben sie Pech, die ist gestorben, vor drei Tagen bekam ich die Meldung.
Die Wohnung ist nun frei- wollen sie diese mieten?
Neeein, stammelte er verwirrt, ich wollte Ella nur nochmal sehen..

Das erzählte er -wie die anderen Abschnitte seines Lebens am gemeinsamen Tische,
"das hat mich lange Zeit sehr mitgenommen!".
Die Verantwortung für einen lieben Menschen kann sehr schwer sein - zum ersten Mal im Leben habe ich geweint!
Die Stimmung am Tisch war gedrückt und still.
Gemeinsam gingen sie in den Park und gedachten ihr.
Kurt sagte zu Bodo- "du meine Güte, eine ganze Woche!"

Roland ging zum Kiosk, als es krachte- mehrere Fahrzeuge sind zusammen gestoßen.
Splitter flogen umher, ganze Autoteile, Schreie waren zu hören.
Fremde Fahnen an den Autoscheiben, Blut, Drohungen in seltsamen Sprachen.
Multikulti, überschwere Sportwagen, so teuer wie ein Einfamilienhaus, Straßenrennen und Macho-Gehabe.
Er sah etliche Fahrer das V-Zeichen machen.
Die Stadtbewohner sehen weg und Polizeiwagen fahren nur noch im Pulk in etliche Wohnviertel, sonst ist das zu gefährlich, weil der von dieser Klientel eingeforderte Respekt der Polizei gegenüber nicht stattfindet - im Gegenteil.
So ging Roland versehentlich zur Kaufhaustür statt zum Kiosk und mußte umkehren.
Innerlich schüttelte er nur noch den Kopf.
Hier wirste verrückt, die Stadt ist nichts für mich, wo im Schneematsch schon mal Frauen im Sari mit dünnen Sandalen herum eiern.

Auf dem Weg zum Kiosk wurde er Opfer einer Taschendiebin - und wollte den Kioskbetreiber als Zeugen einbinden, was aber nicht möglich gewesen ist.
Der seltsame Typ ist wohl der neue Inhaber, der hinter dem Tresen hockte - er verstand kein Wort Deutsch.
Was guggst du?
Verdaddert ging er in sein Zimmer.
Am Kaffeetisch erzählte Roland von seinem Erlebnis.
Kurt schimpfte und Lena meinte:
Heute kommt ein C du Politiker und spricht mit uns, es soll wohl eher eine Information als eine Diskussion werden.
Aha, meinte Roland, die ziehen ihr Ding durch und wir sollen das Kreuzchen an der richtigen Stelle machen.
Bodo:
Der Herr Provinski wird über die Altersstruktur im Land reden.
Lena fragt:
Wie alt ist dieser Prov-dingsky eigentlich?
Nach dem Bild wohl knapp zwanzig, ja so ungefähr, meinte Bodo trocken und er redet in einem russischen Zungenschlag - na bravo.
Zeiten sind das!

Roland schreibt in seinen Block: Damals schlief ich eine Nacht auf einer Parkbank, als mich zwei junge Türken "platt machen" wollten.
Die haben nicht mit einem kräftigen nüchternen Mann in den besten Jahren gerechnet, der sie nach Strich und Faden vermöbelt hat.
Diese wabbeligen Couch-Potatos mit ihrem typischen Watschelgang hatten nichts entgegen zu setzen.
Ich hatte auch schon Ärger mit diesen Anabolika-Bodystylern, die nichts weiter tun, als ihre Schaumuskeln den ganzen Tag zu trainieren.
So wirken sie stark und gefährlich - was sie nicht sind.
Es sind und bleiben Weicheier.
Auf jeden Fall kamen die in bedrohlicher Haltung auf mich zu und boten mir Prügel an.
Bevor der stärkste Typ begriffen hat, hatte er schon eine Watschn abbekommen, dann blutete dem 2. das Maul..
Der Dritte ist gleich weg gelaufen.
Zeiten sind das!
Deshalb mied ich fortan größere Orte, wo die ganzen Ortskerne inzwischen in multikultureller Hand sind.
Nun ging es durch idyllische Wälder und Felder, auf alten Wanderwegen, bei Vogelgezwitscher.
Hier trifft man nur ältere Einheimische, wenn überhaupt einen.

Er ging mit dem Dessert-Teller und dem Kaffee-Pott in den Versammlungsraum und erzählte weiter von seinen seltsamen Erlebnissen, daß er sich verlaufen hat und zum Kaufhaus, statt zum Kiosk ging.
"Ist das schon die Altersverwirrung"?
Ach was, meinten die Genossen, das ist uns allen schon mal so ergangen, wir werden alt - meinte Kurt trocken.
Man ist im Alter oft in Gedanken, immer öfter in einer -alten- Welt.
Außerdem nimmt die Gewaltbereitschaft und die Klauereien jedes Jahr zu, man will offenbar die Problemgesellschaft fördern und wir sollen von den Politikern auf Linie gebracht werden, diesen Unfug für gut zu finden..
Warum soll ausgerechnet unser Land eine Insel der Glückseeligen sein, während rund herum, ja in der ganzen Welt das Chaos an der Tagesordnung ist.
Indische Verhältnisse werden wohl in wenigen Jahrzehnten ganz normal sein.
Alle lachten verzerrt und zeigten damit ihren Unmut:
"und wir Deppen haben uns bequatschen lassen und die Überfremder sogar noch gewählt!"
meinte Bodo.
Nee, meinte Kurt - ich habe rechtsaußen Fußball gespielt und auch so gewählt und was war?
Nun, auch mich haben sie verarscht.
Unehrlich waren letztlich alle Parteien.
Na ja, das Meiste haben wir hinter uns und das ist gut so, kommentierte Lena diese seltsame Unterhaltung.
Mittlerweile ist der Kaffee im Pott kalt geworden und Roland trank das Zeug mit Verachtung runter.
Alle wirkten nach dem Plausch entspannter.
Ja ja ich weiß, meinte Oma Hilde, die mit ihrem Rollator angehumpelt kam:
Wichtige Leute halten Reden und wir kleinen Leute quatschen, so ist das nun mal - keiner nimmt uns mehr für voll..
die Gruppe löste sich sehr schnell auf und plötzlich musste jeder geschwind wohin.
Oma Hilde war die größte Klatschbase im Haus.

Eines Tages ist Oma Hilde falsch abgebogen, wie Kurt spöttisch meinte, und ist die Treppe hinab, statt in den Lift gefahren mit ihrem Rollator.
Ein anderer verwirrter Bewohner hat einen Pfleger geschlagen - hier ist immer was los!
Der Schläger kam in die Psychiatrie, Oma Hilde starb noch am gleichen Tag im Krankenhaus.
"Zehn kleine Negerlein.."
meinte Lena und "darf man das heute noch singen?"
Na ja, wir sind sowieso von gestern, also was soll's?
Am Montag war immer Arzt-Tag- Roland sah aus den Augenwinkeln, wie die Sprechstundenhilfe die Krankenakten von Oma und Olaf dem Schläger beiseite legte.
Die Erika saß am Nachbartisch und war auf strenge Diät gesetzt - man hat sogar ihre Post gefilzt, weil schon mal 2 Kilo Plätzchen per Paket gekommen sind, die sie nun großzügig an alle verteilt.
"Sie müssen sich.."
kam jeder Satz des Pflegers an.
Das zermürbt und macht unzufrieden.
Einmal hat man sie erwischt, als sie im Kiosk 2 Flaschen Eierlikör gekauft und gerade eine Flasche an den Hals gesetzt hat- noch im Eingangsbereich des Seniorenheims- bis ins Zimmer hat sie es wohl nicht ausgehalten.
So wurde der "Stoff" konfisziert.
Die Drei gingen ihr aus dem Weg, weil auch Erika eine der Klatschbasen war.
Zu spät, Roland lief ihr gerade auf dem Flur in die Arme:
Ja Erika, wie geht es denn?
Schön sie zu sehen!
Und schon hob ein Monolog an, über alle Krankheiten, die man als alter Mensch so bekommt, bekommen kann und bekommen könnte oder nicht haben mag.
Als er das leise am Tisch beim Frühstück erwähnte, meinte Kurt:
Ich weiß, sie spricht eine 3/4 Stunde am Stück, da kommt man nur weg, wenn man zur Therapie muß.. mogeln kann man nicht, sagte Lena, die kennt alle Anwendungs-Zeiten auswendig und läßt jede Notlüge auffliegen.
Sie hat sogar Tricks parat, um den Aufmerksamkeitserfolg zu verifizieren - mit Zwischenfragen zu dem Text, den sie dir ins Ohr drückt.
Wenn man hier versagt und nicht richtig hin gehört hat, fängt sie nochmal an..

..dann kam der Tag, als es eine Pilzsuppe gab.
Zehn Bewohner kamen ins Krankenhaus, die Polizei war da und die Lebensmittelkontrolle.
Die Suppe kam aus einer großen Krankenhausküche, die aber unschuldig gewesen sein soll.
Irgendwas muß auf dem Transportwege passiert sein oder an der Essensausgabe des Heimes.
Die Polizei ermittelt, Erika auch!
Der Kommissar rief ein paar Heimbewohner zu sich in den Kantinenvorraum, um jeden einzeln zu befragen.
"Haben sie gesehen, wer ab 11 uhr bis 12 Uhr in der Kantine, bei der Annahme oder in der Ausgabe Dienst tat, war ein unbekanntes Gesicht dabei? "
Einige Name und Hinweise wurden gemacht.
Nur eine Person konnte als betriebsfremd identifiziert werden.
Ein älterer Mann mit grauem Kittel, der beim Abladen half.
Die Cam hat ein Bild machen können, wir sehen uns die Aufzeichnung gerade an.
Bodo schüttelte den Kopf und murmelte etwas wie "Schwedenkrimi im Altenheim"- aber niemand lachte.
Den Erkrankten ging es so la la, nicht richtig gut.
Der Arzt hat eine schwere Pilzvergiftung festgestellt, Amanita phalloides, wie er lakonisch bemerkte.
Der muß geschreddert worden sein und in den Thermobottich getan und umgerührt worden sein, meinte Kommissar Freitag - was heißt eigentlich "Amanita phalloides"?
Sein jüngerer Kollege fügte an, daß es mehr als ein Pilz gewesen sein muss.
Knollenblätterpilz heißt das, fügte er an, ich habe gerade im Internet nachgeschaut..
Auf jeden Fall ist der Zeitpunkt geschickt gewählt worden, denn der Heimleiter ist gerade in Urlaub und die Transporteure habe es zuweilen eilig- die stellen schon mal einen Behälter auf die Rampe, bevor das Rolltor geöffnet wird.
Nachdem alle Heimbewohner sich das Bild betrachtet haben, meldete sich Dorthe, die schon ganz lange hier wohnt, sie konnte sich an einen Pfleger erinnern.
Er war hier nur kurz und wurde wegen Mordversuchs an Bettlägrigen Insassen verhaftet und in die Psychiatrie gesteckt.
Der Kommissar meinte:
Vermutlich hat der Freigang - ich forsche nach.
Nach einigen Minuten meinte er: Der Pfleger hat angegeben, daß er das Leiden der Alten nicht länger ertragen könne und deshalb diese Tat begangen hat.
Ja, er ist auf Freigang und hat einen Waldspazierung angegeben.
Auch die Köchin bestätigte die Aussage:
"Die Fahrer der Krankenhauskantine stellen das Essen auf die Rampe, klingeln und fahren weg.
Ich kann nicht immer sofort dort hin, besonders nicht, wenn es in der Küche gerade hart zur Sache geht.

Am nächsten Tag starben drei der zehn Vergifteten.
Eine Trauerfeier im Heim ließ alle nachdenklich werden und an das Ende denken.
Schön oder auch nur schmerzfrei ist so ein Abgang bestimmt nicht, meinten die Drei und Roland.
Das Heim vermied es, nochmal Pilzsuppe zu servieren - die hätte garantiert keiner essen wollen..
Am Folgetag war ein Riesenspektakel im Park zwischen den Wohnblocks, viele Polizeiwagen standen herum und mit dem Megaphon wurden Befehle gebrüllt.
Die Heimbewohner standen an den Fenstern und schauten hinaus:
Was ist denn da los?
Einzelne Leute rennen herum, Polizisten hinterher, Verhaftungen, Schreie - Schüsse.
Dann zogen die Wagen wieder ab und nur noch einzelne Schreie von Frauen seltsamer Herkunft erfüllten die Luft.
"Arabien ist bei uns angekommen",
meine Bodo trocken,
"solches Geplärr habe ich im Urlaub in Tunesien gehört, als dort Aufstände waren"

Die Drei saßen auf einer Parkbank, nähe des Brunnens, als zwei größere Buben mit Macho-Gehabe dort entlang gingen und die anderen Kinder terrorisieren, Geld abpressten oder schlugen, wenn sie nichts zahlen wollten:
"Das unser Gebiet"
Um die Ecke spielten Kinder mit dem Ball, als der Hausmeister dort mit dem Rasentraktor fuhr - er wurde von Kopftuch- Frauen bedroht, die ihre Kinder gestört sahen.
Die Schilder "Rasen betreten verboten" hat man schon lange abgebaut und im Keller gelagert, weil sich von den neuen Blockbewohnern niemand daran hielt.
Frauen bedienten ihre Männer vom Grill, alle hockten auf dem Rasen und ließen sich von denen bekochen.
Dort ging es fortan zu, wie auf einem orientalischen Basar.
Laut wie auf dem Jahrmarkt konnte von erholsamer Stille keine Rede mehr sein.
Die "Deutschen" fremdländischer Herkunft haben die Einheimischen längst in die Ecke gedrängt und die Lufthoheit übernommen.
Roland fühlte sich wie damals auf der Parkbank- bedroht, schrieb aber weiter in seinen Block:

Am schönsten war es im Speckgürtel der Kurstadt Bad Homburgs, hier war die Welt so schön irreal, abgehoben und still.
Prächtige Gärten und feine Anlagen mit Schwimmbad-Hallen an den Villen.
Durch Zufall kam ich ins Gespräch mit einem der Hausmeister, der schon älter und auch dicklich war- er sollte den Kakteen-Garten an der Terrasse in Ordnung bringen, wie er jammerte und dabei gerade an der Hecke am automatischen Tor zugange war- das schaffe ich nicht mehr!
Er bot ihm Hilfe an und wurde für eine Woche angeheuert.
"Unser Gärtner ist für 4 Wochen auf Malle- ausgerechnet in dieser Zeit, wo alles wie wild wuchert!"
Roland sah feine Wagen ankommen, die um das Rondell mit den Kakteen kurvten und den weißen Kies aufkratzten, feine Leute stiegen aus, andere wurden abgeholt.
Der Hausmeister meinte nur:
"Die feinen Leute machen Börsengeschäfte und verdienen sich dumm und dusselig daran und uns speisen sie mit Almosen ab- aber was willste machen, das ist Schicksal.
In meinem Alter finde ich nichts mehr!"
In der Schwimmhalle war die Herrin dabei, sich vom Masseur Rückenschwimmen zeigen zu lassen.
Vor der Sitzlandschaft lagen Mengen an Champus-Flaschen vom Abend, Caviar-Dosen und Kleidungsstücke.
Unter der riesigen Azalee sah er zwei Füße hervor ragen - eine total bekiffte Frau, nur mit Slip bekleidet und naß, kam wohl aus der Schwimmhalle und ist dort eingeschlafen.
Ein schwankender Mann wurde von einem Luxuswagen mit Chauffeur abgeholt - war das nicht der Ministerpräsident oder der Gerichtspräsident?
Irgendwo habe ich sein Bild mal in der Zeitung gesehen.
Jaja, die feine Gesellschaft, die Lenker der Wirtschaft und des Landes..
selbst der Fahrer dieser Leute verdient 3500 Euro im Monat plus vielen Zusatzleistungen, meinte der Hausmeister.
Das hörte einer der Fahrer, der gerade an Flaggschiff einer Luxusmarke polierte - der meinte leise:
Ich habe eine umfassende Sicherheitsausbildung und würde nicht unter dem Doppelten dieser Summe arbeiten.
Wir Chauffeure tragen schließlich die Verantwortung beim Transport wichtiger, "systemimmanenter" Personen.
Der Hausmeister und Roland gingen weg, etws bleich im Gesicht.

Diese Episode seiner Lebensgeschichte hat er wieder treulich vorgelesen, bei Knabbergebäck und Tee.
Dann haben sie sich wieder zerstreut - Lena ging zur Mittagsruhe, Bodo zur Massage, Kurt wollte nochmal zum Kiosk und Roland kippte nach vorne auf den Tisch, als seine Kumpels gerade gegangen waren.
Er war alleine im Saal und wurde erst 2 Stunden später vom Personal gefunden.. 86 ist ja auch ein schönes Alter, so sagten sie später und wie friedlich er gestorben ist.
Den Block mit seiner Lebensgeschichte noch in der Hand.
Das Sozialamt hat die Beerdigung bezahlt, es ist noch keiner oben liegen geblieben..



***

Ein paar Tage danach kam ein wohl 50jähriger Mann in das Seniorenheim, der nach Roland fragte.
Er sei sein unehelicher Sohn, so sagte er und wollte wissen, wer mit Roland bekannt gewesen sei,
ob er etwas über ihn erfahren könne.
Leider habe er erst jetzt einen Hinweis erhalten, daß in der Todesanzeige sein Name erwähnt worden sei.
Und nach Rücksprache mit der Heimleitung sei er sich sicher, daß Roland sein Vater gewesen ist.
Er heiße auch Roland, wie sein Sohn, der im jetzt Kummer mache, so erzählte der Mann weiter.
Kurt hat ihn in seinem Zimmer empfangen und ihm das Tagebuch übergeben -
er war der einzige wirkliche Freund, den der Tote je hatte.
Der Sohn erfuhr sehr viel über seinen toten Vater und über sein leichtes Ende,
das ganz sanft und plötzlich gekommen war.
Die Ärzte haben dem Kommissar etwas von einem Aneurysma gesagt,
das kann ganz schnell gehen und auch bei jüngeren Menschen vorkommen, als bei einem 86jährigen.

***

Roland erzählt, daß sein Vater wohl eine kurze Beziehung zu einer Zahnarzthelferin hatte, die seine Mutter sei.
Sie hat ihm nie von der Schwangerschaft erzählt, sie sahen sich niemals wieder.
Meine Mutter wollte ihr Kind alleine groß ziehen, eine feste Bindung war nichts für sie, wie ich hörte.
Als ich erwachsen wurde, das Abi hinter mir hatte
und in einer Rechtsanwaltskanzlei eine Anstellung als Bürokaufmann fand,
kam auch bald die Ehelichung mit Moni und .. der Knabe dazu.
Wir nannten ihn Roland, das war die Bedingung meiner Frau.
So weit ging alles gut, dann machte der Knabe seltsame Sachen, er wollte nicht lernen,
besuchte nur die Hauptschule, ging in die Gärtnerei und begann die Lehre.
Mit 18 ist er abgehauen.
Auch die Polizei hat ihn nicht finden können - deshalb dachten wir,
dachte ich, daß die Spurensuche evtl. einen Hinweis in der Vergangenheit -
bezüglich der Verhaltensmuster solcher Tippelbrüder - bringen könnte.

***

Kurt lachte herzhaft und meinte:
Wenn sie das Tagebuch gelesen haben, werden sie sehen, daß ein Einspruch ihrerseits nichts bringen wird.
Roland- pardon- Roland III wird seinen Weg gehen und vermutlich ist das nicht die schlechteste Entscheidung,
die ein Mensch treffen kann.
Ich lade sie in die Cafeteria ein und dann unterhalten wir uns noch ein wenig - ja?
Es wurde ein lockeres, harmonisches und entspanntes Gespräch zwischen Männern, die sich gut verstanden.
Sicher würden sie sich nicht wieder sehen, Kurt hatte sein Alter und jeder Tag konnte der letzte sein.
Der Abschied kam und beide zeigten ziemliche Rührung.

***

Roland III wußte nichts von seinem Großvater, kannte seinen Lebensweg nicht und doch beschritt er die gleichen Pfade, verhielt sich sehr ähnlich und tat nur das, was er auch wirklich wollte. Er ging nur stille Wege und ward eigentlich nirgends gesehen, er war nicht ausfindig zu machen. Das Tätigkeitsfeld war praktisch das des Vorfahren..

***

..es kam doch ein wenig anders.
Roland III kehrte zurück zum Elternhaus, gab seine Papiere und Dokumente ab, damit sie unterwegs nicht verloren gehen und löste bei der Bank das Konto auf. Er verabschiedete sich und versprach, sich ab und an -per Postkarte- zu melden. So konnte kein Amt ihn ausfindig machen.

***

Er ließ sich einen Kinnbart stehen, kaufte sich von dem Geld der Kontoauflösung stabile Arbeitskleidung in beiger Farbe und einen wetterfesten Hut, einen Wanderstock - sehr solide - und einen großen wasserfesten Rucksack und einen Kompass- eine Straßen- oder Wander-Karte lehnte er ab. Handy und Uhr blieben daheim, dafür hatte der handwerkliche Gürtel ein Geldfach eingebaut, das nur noch den Personalausweis enthielt.

Unterwegs sinnierte Roland III. nach und dachte an seine Eltern, denen er nicht auf der Taschen liegen wollte, liegen konnte, denn sie waren chronisch blank, alles geleast und gemietet.. So gegürtet zog er los und ging einfach mal Richtung Norden. Der Winter war nicht so hart in diesem Jahr, so daß er sich von kleinen Handreichungen über Wasser halten konnte. Hier ein wenig fegen, dort Holz hacken, beim Bauern ausmisten und schon ging er weiter auf Tour.

Er traf andere Gesellen, die auf Walz waren und unterhielt sich prächtig mit denen. Sie gingen ein paar Kilometer zusammen und wünschten sich einen guten Weg. Roland III fand keine andere Übernachtungsmöglichkeit als sein isoliertes Einmann-Zelt, das auf dem Rucksack getragen wurde. Aus Armeebeständen, in Flecktarn - praktisch kaum sichtbar im Wald oder Gebüsch. In so manchem Abfalleimer an Parkplätzen fand er Alu-Dosen, die trug er in einer Einkaufstüte und löste die Dosen an einem der Einkaufsmärkte ein, an denen sein Weg vorbei führte. Vier Stück waren immer drin und das gibt beim Diskounter 2 Brötchen und eine 200gr Packung Wurst oder Käse oder eine Flasche Mineralwasser. Meistens fand er an einem Tag 6-8 Dosen, die immer eine Mahlzeit einfuhren.

Führte sein Kompass auf dem Weg nach Norden an keinem Ort vorbei, dann war das auch gut. Manchmal schob er Hunger, den Durst kann man an jedem klaren Bach löschen. Durst ist schlimmer als Hunger, so sein Trostspruch zu sich selbst.

Auf einer Bank am Wald traf er einen alten Mann mit Hund, der sein Leid klagte: "So müsste ich nochmal laufen können, seit mein Hüftgelenk mit Arthrose belastet ist, kann ich bald keinen Schritt mehr ohne schlimme Schmerzen gehen. Roland III meinte: "Wenn sie mir ein Taschengeld geben, kann ich ihnen so einige Arbeiten abnehmen, ich wäre auch nicht böse um eine Unterkunft während dieser Zeit" Der Alte sah sein frisches, ehrliches Gesicht und so wurde der Handel abgeschlossen. Per Handschlag, ohne jemandem etwas davon zu erzählen. Der Mann meinte: "Wenn jemand dumm fragt, sage ich eben, daß mein Groß-Cousin zu Besuch ist. Aber mit mir haben sowieso nicht mehr viele Leute Kontakt"

Ganz langsam gingen sie zusammen zu einem ehemaligen Bauernhof, der heute nur noch Wohnhaus ist, mit einer zu Garagen umgebauten Scheune und einem riesigen Innenhof. "Früher war hier richtig viel Leben, als meine Eltern noch lebten und meine Geschwister noch klein waren, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen!"
Roland III nickte und führte den Hund zum Trinknapf, nahm die Leine ab und hängte diese an den Haken darüber.
"Meine Frau ist vor zwei Jahren gestorben und nun hause ich in einem kleinen Zimmer neben der Küche. Das war früher mal die Garderobe, als unsere Familie mit 7 Kindern hier war. Die anderen Räume zu bewirtschaften ist mir viel zu umständlich und auch zu teuer zu beheizen. Ich brauche nur den Küchenherd. Aber das geht auch kaum mehr, weil ich das Holz nicht mehr hacken kann.."
Na, wenns weiter nichts ist, dann fange ich schon mal an und so entschwand Roland III hinter der Scheune, wo er den Holzschuppen sah.
Das Ding war einfach aus Dachlatten in die Höhe gezogen, immer eine Latte Luft dazwischen und oben ein einfaches Blech-Pultdach darauf. Ohne Tür, aber mit Holzklotz und Beilchen. Eine kleinere Menge altes Holz war aufgestapelt.
Hinter der Scheune waren größere Festmeter - Stapel an Holz, die der Alte wohl irgendwann mal bei der Gemeinde ersteigert und mit dem Trecker abgeholt hat. Die Bügelsäge hing im Holzschuppen, sogar mit Ersatzsägeblatt.
Ordentlich ist der Alte, dachte er sich bei der kräftezehrenden Arbeit, die 1mtr Holzstücke auf dem alten Sägebock in beilgerechte Stücke zu zersägen. Aber das gibt bekanntlich Muskeln, echte Muskeln und keine Schau-Buckel!
Er arbeitete gut und stapelte das gehackte Holz gut greifbar im Holzdepot. Dann führen sie zusammen in den Lebensmittelmarkt und haben sich eingedeckt. Roland III hatte keinen Führerschein, deshalb fuhr der Alte.
Sie sahen zusammen fern und gingen dann in die Koje- Roland bekam eines der Kinderzimmer zugewiesen.

Er blieb bis zum Frühjahr bei dem Alten und zog dann weiter Richtung Norden. Von sich hat er ihm nicht viel erzählen können, weil man in diesen 18 oder 19 Jahren noch nicht so viel erlebt hat. Mitgegeben hat der Alte eine ganze Menge an Erfahrung. Mit gutem Handgeld ausgestattet hat sich Roland III herzlich verabschiedet, schon nach dem Frühstück um 5 Uhr. Dem alten Bernd wäre sein Verbleiben mehr als recht gewesen, aber das hätte wohl Probleme mit seinen Kindern gegeben.

Ein Stück in den Wald hinein, fand er den alten Wanderweg, der sein Freund geworden ist. So sieht man äsende Rehe auf der Lichtung, atmet saubere Luft und hört die Vögel singen. Nach 3 Tagen ging ihm der Vorrat oder besser die Brotzeit aus und ein Hungertag begann- Wasser gibt es unterwegs genug, das ist schon mal was: Wassermangel ist schlimmer als Hunger. Er sah auf einem Hügel einen ausgesiedelten Diskounter, der an den Farben gut ausgemacht werden kann und auf dem Parkplatz an der Straße dorthin fand er Alu-Dosen mit Pfand.. die gleich in Nahrung umgesetzt wurde.

Bei Bäckern, Metzern oder Gasthäusern ist er nie aufgetaucht, die Anonymität ist hier schneller in Gefahr als sonstwo und das galt es zu vermeiden - unerkannt und ein Fremder, das war sein Ziel. Auch wenn Roland III nichts ausgefressen hatte, fürchtete er doch die Behörden, die vielen Fragen nach Identität, Krankenkasse, Sozialversicherungen, Steuer und und und. An einer Pommesbude in der Nähe sammelte er Abfälle auf, kehrte und säuberte Tische und Stühle, spannte Sonnenschirme auf und bekam dafür eine prächtige Portion Pommes und eine Bockwurst, Senf und Brötchen. Satt ging es weiter in den Wald hinein. Anderntags fand er bei der Durchquerung eines Städtchens einen umgefallenen großen Kleiderständer, den eine Geschäftsfrau nicht alleine aufheben konnte. Er half ihr das Ding aufzurichten und zu befestigen, die anderen beiden Ständer ebenfalls vor den Laden zu wuchten und bekam eine Cola dafür. Was für ein seltener Genuß. Auf einem Schrottplatz stöhnte lautstark der Besitzer, weil große Lieferungen kamen, aber der Mitarbeiter durch Krankheit ausgefallen war.. also blieb er dort. Ungesehen - geschlafen hat er in einem der alten Autos. Eine Woche später half er in der Schlossgärtnerei Hagelschäden zu beseitigen, dann trug er Prospekte aus, strich einer Witwe den Zaun und so weiter und so fort.

Die Jahre vergingen und immer wenn er krank wurde, suchte er einen Arzt auf, mähte den Rasen, schnitt die Hecken, zupfte Unkraut strich etwas - was eben gerade anstand. Meistens begnügte er sich mit dem Erlös aus dem Dosenpfand, dem Dosenfund, wie er reimte.

Als 70ig Jähriger ließ er sich "aufgreifen" und wurde nach langen Verhandlungen mit dem Sozialamt in das Altenheim gebracht, wo schon Roland I gewesen war... im Gegensatz zu diesem hat Roland III keine Erfahrungen mit Geschlechtlichkeiten gesammelt, folglich auch keinen Roland IV in die Welt setzen können und starb im Alter von 76 Jahren in seinem Bett.

Seine Eltern sind nach Jugoslawien gezogen und haben sich nicht mehr bei ihm gemeldet, eine Adresse ist Roland III nicht zugegangen. Die Papiere sind beim Amt gelandet, anonym verschickt.

Mit 75 Jahren hat Roland III einen Schlaganfall erlitten und lebte von da an die Hälfte seiner Zeit in einer Art Traumwelt, aus der er hauptsächlich zum Mittagessen erwachte. Er konnte noch gehen und kaum verständlich sprechen- das Essen wurde aber gerne genommen. Sein Zimmer war oben, zur Straße hinaus und so war immer etwas zu beobachten. Schmerzen waren keine, keine Langeweile und kein Frust, die Tagträume gingen am Abend in die Nachtträume über. Kontakte pflegte er keine und war fast immer in seinem Zimmer alleine - bis auf die Essenszeiten in der Mensa.

Hinter der Friedhofsmauer standen noch ein paar alte gußeiserne Kreuze, mit Emaille-Schildern, auf denen die Namen der Verstorbenen zu lesen waren. "Emilie Groß, geb. Kräg und Otto Groß gestorben 1895 bei einem Unfall" Er dachte über die Menschen nach und deren Schicksale; hatten sie Kinder, wo und wie haben sie gelebt? Der Küster gab Roland III - vor Zeiten an die er sich in wachen Momenten erinnerte - den Auftrag den Kirchhof und Platz zu kehren und ein paar Unkräuter aus der alten Bruchsteinmauer zu entfernen. Buchstäblich für ein Butterbrot, belegt mit dem Dank des Herrn. An diesem Tag wäre er beinahe umgekommen: Zuerst übersah er einen Lastwagen und kam gerade noch so eben davon, dann fiel ein Ast vor ihm krachend herab. Dieser Herbst war unglaublich stürmisch und naß. Ein Hund wollte ihn beißen, als er an einer Tür läutete, um nach Arbeit zu fragen- die Hose war zerrissen. Der Hausbesitzer gab Roland III eine seiner Arbeitshosen, dafür bekam der Zaun einen neuen Anstrich.

"Geht es ihnen heute besser?" Die Pflegerin kam mit einer warmen Suppe ins Zimmer und legte den Löffel daneben- er nickte dankbar und etwas abwesend, noch immer in diesem Tagtraum gefangen. Dann stand Roland III am Kai und half den Schauerleuten eine Ladung Bohnen zu löschen. Eine schweißtreibende Arbeit mit etlichen Leuten, die das kleine alte Frachtschiff nach und nach leichter werden ließ. Für eine Flasche Korn - immerhin. Diese tauschte er ein gegen ein großes Brötchen mit einem Schnitzel darauf - am Kiosk um die Ecke. "Na fein, sie haben alles aufgefuttert, dann kann ich die Schale ja wieder mit nach unten nehmen- gute Nacht!" Er murmelte etwas und sie wars zufrieden.

So ging das Tag für Tag und Monat für Monat - eines Tages ist er durch den Wald gegangen und traf dort wunderliche Leute, aus verschiedenen Zeiten und mit seltsamen Kleidern. Sie nickten einander zu und gingen stumm weiter. Der Himmel hatte einen rötlichen Stich, alles war still und friedlich. Leise Musik undefinierbarer Weise begleitete das Szenario, das warm und anheimelnd.. viele Weggenossen gingen in Begleitung. Es sah aus, als ob eine Familie einen Sonntagsspaziergang machte. Seine Eltern waren nicht da, einer trat zu ihm und ging mit den wunderbaren Kiesweg. Roland I ging mit Roland III in die Ewigkeit hinaus.. jeder verstand die Gedanken des Anderen. So fand man ihn friedlich in seinem Bett, gut zugedeckt und mit der Lesebrille auf der Nase. Das Buch lag auf der Decke, das Leselicht brannte noch..

Bernette- wieder einer, sag unten Bescheid! In einem so großen Altenheim stirbt jeden Tag ein Mensch- mindestens.




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